Friesische Sprichwörter (fer.: spreegwurden; frasch: spräkuurde; sölr.: Spreekuurter; wied.: spreekuurde) Sprichwörter sind wie Sagen, Märchen und Reime sprachliche Schöpfungen der Volksüberlieferung, die sich durch Wanderung verbreiteten. Sie gehen zum Teil auf antike und biblische Überlieferungen zurück und sind zumeist weniger regionstypisch als vielmehr einer gesamteuropäischen Sprichworttradition zugehörig. Insofern gibt es kaum nordfriesische Sprichwörter, sondern hauptsächlich Sprichwörter in nordfriesischer Sprache. Die Ausnahme bildet eine kleine Gruppe, die anhand ihrer bäuerlich-seemännischen Thematik in Verbindung mit charakteristischen Landschaftsbildern und kulturellen Eigenheiten eindeutig als nordfriesische Aussprüche zu identifizieren sind. Auch sind sie Ausdruck eines ganz spezifischen, regionaltypischen Selbstverständnisses der Insulaner und ihrer Mentalität, wie etwa in dem Spruch „,Wal‛ sat üüb Sal an komt nimer tu Feer“ (,Will’ sitzt auf Sylt und kommt nie nach Föhr.). Auch die Verwendung von Orts- und Personennamen sowie die geschilderten Eigentümlichkeiten des Wetters und der Landschaft deuten auf eine lokale Herkunft. Die herausgehobene Stellung der Frauen fand im traditionell geprägten Sprichwort allerdings keinen Niederschlag. Vielmehr zeigt sich hier oft die alte Rollenverteilung wie z. B. in dem Sprichwort aus der Bökingharde: Weer e wüf gödj hüshålt, deer wukse e schainkle bai e büüljke. (Wo die Hausfrau gut wirtschaftet, wachsen die Schinken an den Balken.)
Erstmals gedruckt wurden 1860 in Leiden „Sprichwörter und Denksprüche“ als Anhang des Buches „Nordfriesische Sprache nach der Moringer Mundart“ von Bende Bendsen (1787–1875). Im Jahr 1862 folgte von Christian Johansen (1820–1871) „Die Nordfriesische Sprache nach der Föhringer und Amrumer Mundart“ mit zahlreichen Sprichwörtern. Zwischen 1873 und 1883 gab der Sprachpfleger Moritz Momme Nissen (1822–1903) in zehn Lieferungen sein Werk „De Freske Findling“ heraus. Es enthält über 1 400 Sprichwörter, Redensarten und idiomatische Wendungen in verschiedenen nordfriesischen Mundarten sowie in Westfriesisch und Englisch. Für sein „Nordfrisisches Wörterbuch in mehreren dialekten Nordfrieslands“ konnte er Nickels Jürgens (1865–1896) aus Oldsum auf Föhr als Mitarbeiter gewinnen, der viel Sprichwörtliches beisteuerte. Weitere Sprichwortsammlungen schufen der Föhrer Lehrer Hinrich Cornelius Hinrichsen (1898–1978) mit „Allerhand ual Stacken an Riemen“ in „Klaar Kimming“ (Mitteilungsblatt für friesische Heimatpflege 1932), der „Ferreng an ömreng Allemnack för’t Juar“ (1893–96) von Otto Bremer (1862–1936) und Nickels Jürgens sowie der „Fering-Öömrang Breipot“ (1973–85). Namine Witt (1843–1930) verfasste das handschriftliche Verzeichnis „303 Sprichwörter in Fering“.
1927–39 legte der Studienrat Julius Tedsen (1880–1939) eine umfangreiche Sammlung von föhring-amringer Sprichwörtern an. Sie gingen 2002 ein in das friesische Wörterbuch „Fering-Öömrang Wurdenbuk“. 2012 und 2016 wurden sie ganz wesentlich erweitert in dem von Volkert F. Faltings (* 1951) und Reinhard Jannen herausgegebenen umfangreichen „Fering-Öömrang Spreegwurdleksikon“ sowie dem Lexikon der friesischen Redewendungen von Föhr und Amrum „Twäärs üüs en haligschep – Swäärs üs en halagsjep“.
Zwei in Sprichwortform gekleidete Ausrufe gelten als Wahlsprüche der Nordfriesen: Rüm Hart, klaar Kiming! und Leewer duad üüs slaaw, doch ist letzterer eine gelehrte Erfindung und gehört nicht zum Bestand alter friesischer Sprichwörter.
Århammar 1967 u. 1971, Faltings/Jannen 2012 u. 2016, Möller 1916, Wielandt/Schmidt 1966, Wilts 1992, 1996 u. 2000a, Winger 1992 u. 1993.
Am eindeutigsten sind jene Sprichwörter als friesisch zu identifizieren, bei denen formale Mittel wie Wortspiele, Reim und Alliteration auf dem Sonderwortschatz des Friesischen beruhen:
Wortspiel:
Jil an Jil es dach lik glēr.
(Aal und Geld sind doch gleich glatt.)
Sylt
Reim:
Tö Pingster spring ali jong Hingster.
(Zu Pfingsten springen alle jungen Pferde.)
Sylt
Alliteration:
Iar a hünj komt, as a haas tu hool.
(Bevor der Hund kommt, ist der Hase im Loch.)
Föhr/Amrum
Büten blank – benen kraank.
(Außen hui – innen pfui.)
Sylt
Auf Personennamen bezogen:
Hi as üüs Jins Taten, diar’r komt, blaft’r saten.
(Er ist wie Jins Taten, wohin er kommt, bleibt er sitzen.)
Föhr/Amrum
Besonderer lokaler Bezug:
Leewer schephörd bi a dik üüs bürgermääster bi a Wik.
(Lieber Schafhirte am Deich als Bürgermeister in Wyk.)
Föhr
Hi daaget āp üs Heliglön ön en Töök.
(Er tauchte auf wie Helgoland aus dem Nebel.)
Sylt
Dåt as sü briidj as Bräist.
(Das ist so breit, d. h. zieht sich so lang hin, wie Bredstedt.)
Bökingharde
Wetterregeln:
Föör Santnesdai (24. Juni) skel wi altermaal bad am rin, eftert kön’t en ual wüf alian du.
(Vor Johannistag müssen wir alle um Regen bitten, danach kann es auch eine alte Frau allein tun.)
Föhr/Amrum
Tu poosche schal ham en loosch önj e rooge fersteege koone.
(Zu Ostern muss sich eine Lerche im Roggen verstecken können.)
Bökingharde
Eigentümlichkeiten der Nordseeküste:
Diar di Dik liigst es, gair di Flör jest aur.
(Wo der Deich am niedrigsten ist, geht die Flut zuerst herüber.)
Sylt
„Ale baad halept“, saad at miir, do paset jü uun’t hääf.
(„Jede Gabe hilft“, sprach die Ameise und pinkelte ins Wattenmeer.)
Föhr/Amrum
Eeb an flödj täiwe eefter niimen.
(Ebbe und Flut warten auf niemanden.)
Bökingharde
Charakteristische Tiere:
Diar eeset me en Söngreewling, fangt wel aaft en Wetling.
(Wer einen Sandspierling als Köder nimmt, fängt wohl oft einen Schellfisch.)
Wan e krååge kaame, sü mönje e bakere wike.
(Wenn die Krähen kommen, müssen die Seeschwalben weichen.)
Bökingharde
Ja sloue as bruuskrädjere.
(Sie schlagen sich wie Kampfläufer.)
Bökingharde
Aus dem Seemannsleben:
Jong koptains, ual süpers.
(Junge Kapitäne, alte Säufer.)
Föhr/Amrum
Huum ai bääsie koon, mötj tu siie gunge.
(Wer nicht beten kann, muss nur zur See gehen.)
Bökingharde
En Seeman tö Hingst es en Gruul fuar Got.
(Ein Seemann zu Pferde ist ein Gräuel vor Gott.)
Sylt
Eigenarten des Friesenhauses:
Dü sleepst bi a woch!
(Du schläfst an der Wand, d. h. du hast überhaupt nichts zu sagen.)
Föhr/Amrum
En tweegkuulew as en iikenen staner öntj hüs.
(Ein Kuhkalb ist ein eichener Ständer im Haus.)
Bökingharde
Auf typische Speisen bezogen:
En kleeb saner biard smeekt üüs brei saner saalt.
(Ein Kuss ohne Bart schmeckt wie Brei ohne Salz.)
Föhr/Amrum
Diar ön di Kual spütet, mut en salev āpiit.
(Wer in den Kohl spuckt, muss ihn selber essen.)
Sylt
We frasche san åål bait braifåt grut wörden.
(Wir Friesen sind alle mit der Breischüssel groß geworden, d. h. wir kennen keine Rangunterschiede.)
Bökingharde
Wilts 2000a.