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Nordfrieslandlexikon
Tönnies, Ferdinand

Tönnies, Ferdinand * 26.7.1855 „Op de Riep“ bei Oldenswort, † 9.4.1936 Kiel, Soziologe und Philosoph. Bald nach seiner Geburt kaufte die Familie das Kavaliershaus am Schloss vor Husum. In der Stadt besuchte Tönnies das Gymnasium und erwarb als 16-Jähriger die Matura. In dieser Zeit half er Theodor Storm (1817–1888) bei Korrekturarbeiten, die der große Dichter später anerkennend zu würdigen wusste. In Jena, Leipzig, Bonn, Berlin und Tübingen studierte Tönnies klassische Philologie und Geschichte, promovierte 1877, betrieb auch philosophische Studien und habilitierte sich 1881 in Kiel, wo er Privatdozent wurde. Beeinflusst von der Philosophie Immanuel Kants (1724–1804) und Arthur Schopenhauers (1788–1860) sowie der Gesellschaftstheorie des 19. Jahrhunderts schuf er für die Soziologie eine wissenschaftliche Gliederung und Systematik mit eigenständiger Begrifflichkeit. Dabei unterschied er die „reine“ Soziologie – einen Begriffsapparat zur theoretischen Konstruktion verschiedener Formen und Typen sozialer Wesenheiten, Werte und Normen – von der „empirischen“ Soziologie, die mit schlussfolgernden (induktiven) und statistischen Methoden soziale Tatsachen erforschen sollte. Wichtige Arbeiten verfasste er über den englischen Philosophen des 17. Jahrhunderts Thomas Hobbes (1588–1679), kritisch setzte er sich mit dem „Nietzsche-Kultus“ auseinander. 1887 entstand sein Hauptwerk „Gemeinschaft und Gesellschaft“. Erst 1908 erhielt der unbequeme Denker die Ernennung zum außerordentlichen Professor für Staatswissenschaften in Kiel. 1909 gründete er zusammen mit Max Weber (1864–1920), Georg Simmel (1858–1918) und anderen die Deutsche Gesellschaft für Soziologie, deren Präsidentschaft er von 1922–33 führte.

Starkes soziales Engagement zeigte Tönnies in einer Untersuchung über den großen Hamburger Hafenarbeiterstreik 1896/97. Als einer der ersten betrieb er „Feldforschung“. Seine Studien, etwa über den Selbstmord in Schleswig-Holstein oder zur schleswig-holsteinischen Agrarstatistik, wurden vorbildlich für die aufstrebende Soziologie. Forschungen über das „Verbrecher- und Vagabundentum“ führten ihn u. a. in die Zuchthäuser von Rendsburg und Hannover, wo er mit Gefangenen sprach.

Neben dem Hauptwerk ragt die große Untersuchung „Kritik der öffentlichen Meinung“ (1922) aus Tönnies’ Forschungsergebnissen heraus. 1931 veröffentlichte er das bis heute gültige Grundlagenwerk „Einführung in die Soziologie“. Am schärfsten unter den etablierten deutschen Soziologen kritisierte er, seit 1930 Mitglied der SPD, hoch beunruhigt und öffentlich die „Bewegung“ Hitlers. 1933 verlor er dadurch seine Lehrbefugnis in Kiel und wurde vom nationalsozialistischen Regime im Rahmen des „Berufsbeamtengesetzes“ unter Streichung seiner Emeritenbezüge aus dem Beamtenstand entlassen. Tönnies geriet in wirtschaftliche Not und musste u. a. große Teile seiner Bibliothek verkaufen.

Für die Entwicklung des international anerkannten Wissenschaftlers war seine Herkunft aus Nordfriesland von nicht geringer Bedeutung. Im ausgeprägten Briefwechsel mit dem aus Langenhorn stammenden Pädagogen Friedrich Paulsen (1846–1908) klingt immer wieder an, dass beide sich als Erben der „alten Bauernfreiheit“ sahen. Die daraus resultierende geistige Unabhängigkeit bewahrte ihnen einen klaren Sinn für das Wirkliche und eine Hochschätzung von praktischer Arbeit und Erfahrung. So dürfte die Kenntnis der Eiderstedter Landschaftsverfassung einen deutlichen Einfluss auf Tönnies’ Gegenüberstellung von Gemeinschaft („lebendiger Organismus“) und Gesellschaft („mechanisches Aggregat“) ausgeübt haben.

Carstens 2013, SHBL 6, Steensen 2005.

Theodor Storm urteilte 1881 über Tönnies: „... nächst seinerzeit Theodor Mommsen (1817–1903) ist er der bedeutendste junge Mann, den ich in meinem Leben gefunden habe.“