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Nordfrieslandlexikon
Rungholt

Rungholt ist eine legendenumwobene untergegangene Marschensiedlung im südlichen Bereich der Utlande. Der Name bedeutet „Wald, aus dem Rungen, also kleine Rundhölzer, geholt werden“. Sie lag sehr wahrscheinlich in einem heute durch Pellworm und die Halligen Nordstrandischmoor, Nordstrand und Südfall umrissenen Areal. Es umfasste mindestens 44 Kirchspiele, denn so viele wurden in einer Aufstellung des Schleswiger Bischofs bei der Sturmflut 1362 als überflutet aufgezählt. Sehr viele Menschen kamen ums Leben, nicht gesicherte Zahlen sprechen von vielen Tausend, doch kann über das tatsächliche Geschehen wegen der spärlichen Quellen nur gemutmaßt werden. In einer Aufzeichnung des als verloren geltenden älteren Schleswiger Stadtbuchs wurde mit 30 Kirchen und Kirchspielen gerechnet, die für immer vernichtet wurden, darunter das Kirchspiel Rungholt. Der Name Rungheholte ist 1345 belegt, als aus Hamburg an die „Richter, Ratleute und Geschworenen“ der Edomsharde auf dem Strand eine Mitteilung über ein Testament geschickt wurde. Das Rungholtgebiet ging allerdings nicht in einer einzigen Sturmflut verloren. Noch bis ins 16. Jahrhundert gab es in dem Gebiet Halligen, zum Beispiel „Grote Rungholt“ und „Lütke Rungholt“, die erst nach und nach verschwanden.

Die später von Rungholt berichtenden Chronisten ersetzten fehlende Kenntnisse durch Phantasie. Erst im 16. Jahrhundert entstand die Rungholt-Sage. Sie stellt die Sturmflut als himmlische Strafe für Gotteslästerung dar. So sollte einst ein Pastor einer betrunkenen Sau das Abendmahl spenden. Der Gottesmann flehte die Rache des Himmels auf seine hoffährtigen Schäflein herab. Gott schickte eine „Sintflut“, Rungholt ging unter, und nur der Pastor und drei Jungfrauen sollen dem verheerenden Schicksal entkommen sein.

Der Schriftsteller und Hardesvogt auf Pellworm Detlev von Liliencron (1844–1909) verarbeitete den Stoff in seiner Ballade „Trutz, blanke Hans“. Das Gedicht trug entscheidend dazu bei, dass die Rungholt-Überlieferung lebendig blieb. Der dadurch verbreitete Mythos einer blühenden Handelsmetropole an der nordfriesischen Küste ist allerdings nur dichterische Fiktion.

Neue Nahrung erhielt das Thema ab 1921, als der Nordstrander Landwirt und Heimatforscher Andreas Busch (1883–1972) das Gebiet um Hallig Südfall erkundete. Er fand eine große Anzahl Siedlungsspuren, verarbeitete die Funde mit seinen Erkenntnissen aus der Erdgeschichte, der historischen Kartografie und der Gewässer- und Wetterkunde und kam zu dem Schluss, die historische Rungholt-Siedlung gefunden zu haben.

Die moderne Forschung geht davon aus, dass die Deutungen Buschs weitgehend richtig sind, wenn auch ein definitiver Nachweis angesichts der schmalen Datenbasis kaum gelingen kann. Nach den wenigen vorliegenden urkundlichen Zeugnissen war Rungholt ein wichtiger Ort, möglicherweise der Hauptort der Edomsharde auf dem alten Strand. Es gab auch einen dicht besiedelten Rungholtkoog. An der Kirche von Rungholt wirkte ein Kollegium von Geistlichen, was auf eine herausgehobene Stellung hindeutet. Dort, wo Rungholt vermutet wird, befand sich etwa seit dem 12. Jahrhundert einer der Hafen- und Handelsplätze der Utlande.

Auch heute werden immer wieder neue Kulturspuren im Watt zwischen Pellworm und Nordstrand gefunden. Das Gebiet ist übersät mit Häuserresten, Ziegelsteinen, Brunnenringen, Tonscherben, Tierknochen und Holzresten, die durch die Gezeitenströme hin und wieder aus dem Schlick gespült werden. Die nordfriesische Küste war im ausgehenden Mittelalter ein unwirtlicher Landstrich, lautet das Fazit der Rungholt-Forscher. Die Menschen lebten verstreut auf Warften, betrieben Landwirtschaft und handelten mit Butter und Wolle und in gewissem Umfang wohl auch mit Bernstein.

Bahnsen u. a. 2014, Busch 1933, 1936, 1938, Haupenthal/Newig 2016, Panten/Kühn 2000.


„Heut bin ich über Rungholt gefahren,
Die Stadt ging unter vor fünfhundert Jahren.
Noch schlagen die Wellen da wild und empört,
Wie damals, als sie die Marschen zerstört.
Die Maschine des Dampfers schüttert‘ und stöhnte,
Aus den Wassern rief es unheimlich und höhnte:
Trutz, blanke Hans.“


v. Liliencron 2009.