Flüchtlinge Die Ereignisse gegen Ende des Zweiten Weltkriegs lösten eine beispiellose Völkerwanderung in Europa aus. Millionen von Menschen waren auf der Flucht oder suchten eine neue Heimat. Vor der heranrückenden Roten Armee flüchteten in den letzten Kriegswochen Hunderttausende Deutsche nach Westen. Nach Kriegsende begann eine brutale Vertreibung der verbliebenen Deutschen aus Ost-, Mittel- und Südosteuropa. Hunger, Kälte und Krankheiten begleiteten die wochen- und monatelange Flucht. Hunderttausende verloren dabei ihr Leben. Viele Familien wurden auseinandergerissen und waren auf der Suche nach ihren Angehörigen.
In Deutschland wurde Schleswig-Holstein zur ersten Adresse für die Flüchtlinge und Heimatvertriebenen. Bis 1947 kamen mehr als 800.000 Menschen ins Land, das damit gemessen an der Wohnbevölkerung den höchsten Flüchtlingsanteil in Westdeutschland aufwies. In den Kreisen Südtondern, Husum und Eiderstedt hatte sich die Einwohnerzahl im Januar 1948 gegenüber Mai 1939 mit 204.000 nahezu verdoppelt. Etwa zwei Drittel der Neubürger stammten aus Ostpommern und Ostpreußen.
Auf Sylt z. B. waren 1947 fast 14.000 Heimatvertriebene und Flüchtlinge registriert. Damit hatten sie kurzfristig die Mehrheit gegenüber den rund 12.500 Syltern. Knapp 6.000 Menschen konnten auf die Inselgemeinden verteilt werden, etwa 8.000 wurden in Auffanglager eingewiesen. Dazu dienten vor allem auch Kasernen und militärische Anlagen zwischen List und Hörnum. Besonders drastische Verhältnisse herrschten in Rantum, wo auf 338 Einheimische 1.929 Flüchtlinge und Heimatvertriebene kamen. Damit wies das Dorf prozentual die höchste Flüchtlingsquote des Kreises Südtondern auf. An das Schicksal der Heimatvertriebenen erinnert seit 1980 ein Stein in der Strandstraße in Westerland. In Wyk auf Föhr lebten im September 1945 knapp 1.500 Flüchtlinge sowie einige Hundert Evakuierte und etwa 1.500 Soldaten und Verwundete. Dem standen rund 2.800 Einheimische gegenüber. Insgesamt kamen fast 4.000 Flüchtlinge auf die Insel. 1992 wurde im Kurgarten am Sandwall in Wyk ein Gedenkstein mit der Aufschrift „1945 Unvergessene Heimat“ eingeweiht.
Besonders eng war das Zusammenleben in den privaten Haushalten. Mehrköpfige Familien mussten mit einem kleinen Raum auskommen, Küche und Klosett mit den „Gastgebern“ teilen und ihre Wohnstuben als Durchgang benutzen. Dies führte häufig zu Streit und Auseinandersetzungen, sodass manch Betroffener bis heute nicht gern an die schweren Jahre zurückdenken möchte. Es gab aber auch Verständnis und Hilfsbereitschaft für die Neubürger, z. T. entstanden auch tiefe Freundschaften.
1960 waren noch 20 bis 25 Prozent der Bevölkerung in Nordfriesland Flüchtlinge und Heimatvertriebene. Neue Wohngebiete entstanden mit den bezeichnenden Namen „Königsberger“ oder „Marienburger Straße“. Als erste Dauerunterkünfte dienten die „Nissenhütten“ aus Wellblech, die der Kanadier Peter Norman Nissen (1871–1930) im Ersten Weltkrieg für die britische Armee entworfen hatte. Viele Heimatvertriebene heirateten in einheimische Familien ein und lernten Niederdeutsch oder Friesisch. Auch setzten sie neue wirtschaftliche Impulse wie etwa die Brüder Kröger, die aus der kleinen Schiffswerft in Husum einen der wichtigsten Betriebe in Nordfriesland formten.
Gegen Ende der 1950er-Jahre entstanden als Ausdruck der Verbundenheit Patenschaften mit Herkunftskreisen der Flüchtlinge aus Pommern, in Eiderstedt mit Usedom-Wollin, in Husum mit dem Netzekreis und in Südtondern mit Cammin. Sie wurden 1970 vom Kreis Nordfriesland übernommen.
Der Westerländer Willi Witte (1928–2018) erinnerte sich an die Verhältnisse in einem Flüchtlingslager:
„In Dikjendeel bewohnten fünf Familien einen Raum. Diesen hatten sich die Bewohner mit Wolldecken unterteilt. Das Elend war unbeschreiblich. Kasernen, Baracken, Hotels, Pensionen und Privathäuser waren vollgestopft mit Flüchtlingen. Dazu gab es auf der Insel so gut wie keine Arbeit. Das Arbeitsamt war gegenüber der Alten Post im alten Hotel Deutscher Kaiser. Da musste man sich jede Woche einmal melden und bekam einen Stempel in seine Stempelkarte. Oft standen mehrere hundert Arbeitslose Schlange vor dem Arbeitsamt.“
Jastrow 1978, Hubertus Jessel 1989, Kunz/Steensen 2013 u. 2014, Simon 1980, Steensen 1996a.