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Nordfrieslandlexikon
Hindenburgdamm

Hindenburgdamm Sylt litt wegen seiner exponierten Lage im Wattenmeer von jeher unter schwierigen Verkehrsverhältnissen. Besonders nach der Gründung des Seebades Westerland 1855 waren gute Verkehrsanbindungen gefragt. Der Chronist C. P. Hansen (1803–1879) schlug deshalb mehrfach Dammbauprojekte zwischen Insel und Festland vor, „wodurch das alsdann stromlose zeitliche Wattenmeer bei Sylt ohne Zweifel bald zum größten Theil in fruchtbares Marschland verwandelt werden würde“. 1876 folgte der Geologe Ludwig Meyn (1820–1878) nach einer Untersuchung des Wattbodens mit einem positiven Befund für einen Dammbau. Im Ostteil der Insel, vor allem in Archsum und Morsum, erhob sich ein Sturm der Entrüstung. Es gab Stimmen, die sich wegen einer drohenden Überfremdung und nachteiliger Veränderungen der jahrhundertealten sylterfriesischen Kultur große Sorgen machten. 1913 wurde das Vorhaben vom preußischen Landtag genehmigt, doch verhinderte der Erste Weltkrieg zunächst die Ausführung.

Die Abtrennung Nordschleswigs, besonders der Verlust des Hafens Hoyerschleuse an Dänemark, machte ab 1920 eine „deutsche“ Verbindung vom Festland nach Sylt unverzichtbar. 1921 wurde mit Vorarbeiten und im Mai 1923 mit dem Bau des Dammes begonnen. Widerstand regte sich kaum noch, der Glaube an den Segen des Fortschritts hatte sich weitgehend durchgesetzt. Die Trasse folgte einer Wattwasserscheide zwischen Morsum und der Wiedingharde. Im August 1923 zerstörte eine Sturmflut alles bis dahin Geleistete. Deshalb zog man im nächsten Frühjahr eine Spundwand durch das Watt, an die sich das Erdreich „anlehnte“. Unter der Regie des „Preußischen Wasserneubauamtes Dammbau Sylt“ waren bis zu 1.500 Arbeiter in Tag- und Nachtschichten beschäftigt. Täglich rollte ein Materialzug mit 70 Wagen von der Festlandsseite heran. Auf der Sylter Seite bedienten 30 Segler, drei Schlepper und 20 Schuten die Arbeiter mit Baustoffen aus Husum. Nach vierjähriger Arbeit waren die vier Tiefen Westerley, Sylter Ley, Holländerloch und Osterley überwunden. Der 11,2 Kilometer lange Eisenbahndamm wurde am 1. Juni 1927 vom damaligen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg (1847–1934) eingeweiht und trägt seither seinen Namen. Engagierte Friesen forderten zum 75. Jahrestag der Eröffnung eine Umbenennung.
Die Sohlenbreite des Bauwerks beträgt 50 Meter, die Breite der Dammkrone elf Meter und die Gesamthöhe rund zehn Meter. Unter der Leitung von Wasserbauingenieur Hans Pfeiffer (1879–1960) mussten 3,2 Millionen Kubikmeter Erde und über 300.000 Tonnen Steine, Kies, Busch und Pfähle bewegt werden. Die dreieckige Nössekuhle östlich von Morsum, aus der u. a. das benötigte Erdreich für den Damm entnommen wurde, wird heute als Angelteich genutzt. 25 Millionen Reichsmark kostete der komplette Eisenbahndamm. Seit 1932 verkehrt der Autozug, seit 1961 mit Doppelstockwagen. 1972 wurde ein zweites Gleis verlegt. Für die Sicherheit in den Verkehrsspitzenzeiten sorgte eine Station auf dem Damm, die im Volksmund „Villa Meeresblick“ genannt wurde. Heutige Überwachungstechniken gewährleisten, dass etwa 100 bis 120 Züge täglich den Hindenburgdamm befahren können.

Der Damm setzt den Meeresströmungen ein erhebliches Hindernis entgegen, sodass es seither zu erhöhten Hochwasserständen im Sylter Watt kommt. Es wurde deshalb mehrfach angeregt, Schleusen oder ein Gezeitenkraftwerk in den Damm einzubauen. Für einen wirtschaftlich rentablen Betrieb ist allerdings der hier auftretende Tidenhub zu gering. Die durch den Damm geförderte Verschlickung des Watts ermöglichte aber 1954 die Eindeichung des rund 1.400 Hektar großen Friedrich-Wilhelm-Lübke-Kooges auf dem Festland südlich des Damms. Er verkürzte sich dadurch auf knapp 9 Kilometer.

Andere Nebeneffekte des Dammbaus werden mehr oder weniger begrüßt. Einerseits dient der Damm heute vielen Freizeitpiloten als Peilobjekt bei ihrem Anflug auf den Westerländer Flughafen. Andererseits gelangen über das Bauwerk Maulwürfe, Dachse, Füchse und Maikäfer auf die Insel mit enormen Folgen für die Vogelwelt. Zur größten Bedrohung des Insellebens aber wurden die vielen Fahrzeuge, die Zersiedelung der Landschaft, eine steigende Kriminalitätsrate und die Zerrüttung sozialer und familiärer Strukturen.

Die kulturellen und sozialen Probleme, die der Hindenburgdamm der Sylter Bevölkerung bereitete, griff Margarete Boie (1880–1946) in ihrem Roman „Dammbau“ (Stuttgart 1930) auf. Darin heißt es: „,Was die Fremden uns Gutes bringen wollen, daran gehen wir noch einmal zugrunde!‘ – so sprach nicht nur Volquart Claasen, so dachten alle Morsumer und die meisten Sylter. Unter ,Fremden‘ aber verstanden sie allemann jeden Nichtsylter ohne Einschränkung. Als aber im Spätherbst dieses gleichen Jahres die Eisenbahndirektion Altona den Morsumern mitteilte, daß sie bereit wäre, das Land für den Dammbau noch einmal zur Debatte zu stellen und die vor dem Kriege erlegten Kaufsummen dafür aufzuwerten, da gab es doch nicht einen Sylter, der dagegen protestiert hätte.“

Bock 1989, Boie 1930, Eckert/Stöver 1977, Kunz/Steensen 2014, Steensen 2008, Voigt 1977, Wedemeyer 1985.